Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, §81.
Das dialektische Moment ist das eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten. Das Dialektische, vom Verstande für sich abgesondert genommen, macht, insbesondere in wissenschaftlichen Begriffen aufgezeigt, den Skeptizismus aus; er enthält die bloße Negation als Resultat des Dialektischen.
Die Dialektik wird gewöhnlich als eine äußere Kunst betrachtet, welche durch Willkür eine Verwirrung in bestimmten Begriffen und einen bloßen Schein von Widersprüchen in ihnen hervorbringt, so daß nicht diese Bestimmungen, sondern dieser Schein ein Nichtiges und das Verständige dagegen vielmehr das Wahre sei. Oft ist die Dialektik auch weiter nichts als ein subjektives Schaukelsystem von hin- und herübergehendem Räsonnement, wo der Gehalt fehlt und die Blöße durch solchen Scharfsinn bedeckt wird, der solches Räsonnement erzeugt. In ihrer eigentümlichen Bestimmtheit ist die Dialektik vielmehr die eigene, wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen, der Dinge und des Endlichen überhaupt.
Die Reflexion ist zunächst das Hinausgehen über die isolierte Bestimmtheit und ein Beziehen derselben, wodurch diese in Verhältnis gesetzt, übrigens in ihrem isolierten Gelten erhalten wird. Die Dialektik dagegen ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihr Negation darstellt. Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt.
Das Dialektische gehörig aufzufassen und zu erkennen ist von der höchsten Wichtigkeit. Es ist dasselbe überhaupt das Prinzip aller Bewegung, alles Lebens und aller Betätigung in der Wirklichkeit. Ebenso ist das Dialektische auch die Seele alles wahrhaft wissenschaftlichen Erkennens.
In unserem gewöhnlichen Bewußtsein erscheint das Nicht-Stehenbleiben bei den abstrakten Verstandesbestimmungen als bloße Billigkeit, nach dem Sprichwort: “leben und leben lassen”, so daß das eine gilt und auch das andere. Das Nähere aber ist, daß das Endliche nicht bloß von außen her beschränkt wird, sondern durch seine eigene Natur sich aufhebt und durch sich selbst in sein Gegenteil übergeht. So sagt man z. B.: der Mensch ist sterblich, und betrachtet dann das Sterben als etwas, das nur in äußeren Umständen seinen Grund hat, nach welcher Betrachtungsweise es zwei besondere Eigenschaften des Menschen sind, lebendig und auch sterblich zu sein. Die wahrhafte Auffassung aber ist diese, daß das Leben als solches den Keim des Todes in sich trägt und daß überhaupt das Endliche sich in sich selbst widerspricht und dadurch sich aufhebt.
Die Dialektik ist nun ferner nicht mit der bloßen Sophistik zu verwechseln, deren Wesen gerade darin besteht, einseitige und abstrakte Bestimmungen in ihrer Isolierung für sich geltend zu machen, je nachdem solches das jedesmalige Interesse des Individuums und seiner besonderen Lage mit sich bringt. So ist es z. B. in Beziehung auf das Handeln ein wesentliches Moment, daß ich existiere und daß ich die Mittel zur Existenz habe. Wenn ich dann aber diese Seite, dieses Prinzip meines Wohles für sich heraushebe und die Folge daraus ableite, daß ich stehlen oder daß ich mein Vaterland verraten darf, so ist dies eine Sophisterei. Ebenso ist in meinem Handeln meine subjektive Freiheit in dem Sinn, daß bei dem, was ich tue, ich mit meiner Einsicht und Überzeugung bin, ein wesentliches Prinzip. Räsoniere ich aber aus diesem Prinzip allein, so ist dies gleichfalls Sophisterei und werden damit alle Grundsätze der Sittlichkeit über den Haufen geworfen.
Die Dialektik ist von solchem Tun wesentlich verschieden, denn diese geht gerade darauf aus, die Dinge an und für sich zu betrachten wobei sich sodann die Endlichkeit der einseitigen Verstandesbestimmungen.
Übrigens ist die Dialektik in der Philosophie nichts Neues. Unter den Alten wird Platon als der Erfinder der Dialektik genannt, und zwar insofern mit Recht, als in der Platonischen Philosophie die Dialektik zuerst in freier wissenschaftlicher und damit zugleich objektiver Form vorkommt. Bei Sokrates hat das Dialektische, in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Charakter seines Philosophierens, noch eine vorherrschend subjektive Gestalt, nämlich die der Ironie. Sokrates richtete seine Dialektik einmal gegen das gewöhnliche Bewußtsein überhaupt und sodann insbesondere gegen die Sophisten. Bei seinen Unterredungen pflegte er dann den Schein anzunehmen, als wolle er sich näher über die Sache, von welcher die Rede war, unterrichten; er tat in dieser Beziehung allerhand Fragen und führte so die, mit denen er sich unterredete, auf das Entgegengesetzte von dem, was ihnen zunächst als das Richtige erschienen war. Wenn z. B. die Sophisten sich Lehrer nannten, so brachte Sokrates durch eine Reihe von Fragen den Sophisten Protagoras dahin, zugeben zu müssen, daß alles Lernen bloß Erinnerung sei. Platon zeigt dann in seinen strengen wissenschaftlichen Dialogen durch die dialektische Behandlung überhaupt die Endlichkeit aller festen Verstandesbestimmungen. So leitet er z. B. im Parmenides vom Einen das Viele ab und zeigt demungeachtet, wie das Viele nur dies ist, sich als das Eine zu bestimmen. In solcher großen Weise hat Platon die Dialektik behandelt. In der neueren Zeit ist es vornehmlich Kant gewesen, der die Dialektik wieder in Erinnerung gebracht und dieselbe aufs neue in ihre Würde eingesetzt hat und zwar durch die bereits (§ 48) besprochene Durchführung der sogenannten Antinomien der Vernunft, bei denen es sich keineswegs um ein bloßes Hinundhergehen an Gründen und um ein bloß subjektives Tun, sondern vielmehr darum handelt, aufzuzeigen, wie eine jede abstrakte Verstandesbestimmung, nur so genommen, wie sie sich selbst gibt, unmittelbar in ihr Entgegengesetztes umschlägt.
Wie sehr nun auch der Verstand sich gegen die Dialektik zu sträuben pflegt, so ist dieselbe doch gleichwohl keineswegs als bloß für das philosophische Bewußtsein vorhanden zu betrachten, sondern es findet sich vielmehr dasjenige, um was es sich hierbei handelt, auch schon in allem sonstigen Bewußtsein und in der allgemeinen Erfahrung. Alles, was uns umgibt, kann als ein Beispiel des Dialektischen betrachtet werden. Wir wissen, daß alles Endliche, anstatt ein Festes und Letztes zu sein, vielmehr veränderlich und vergänglich ist, und dies ist nichts anderes als die Dialektik des Endlichen, wodurch dasselbe, als an sich das Andere seiner selbst, auch über das, was es unmittelbar ist, hinausgetrieben wird und in sein Entgegengesetztes umschlägt.
Wenn früher (§ 80) gesagt wurde, der Verstand sei als dasjenige zu betrachten, was in der Vorstellung von der Güte Gottes enthalten ist, so ist nunmehr von der Dialektik in demselben (objektiven) Sinn zu bemerken, daß das Prinzip derselben der Vorstellung von der Macht Gottes entspricht. Wir sagen, daß alle Dinge (d. h. alles Endliche als solches) zu Gericht gehen, und haben hiermit die Anschauung der Dialektik als der allgemeinen unwiderstehlichen Macht, vor welcher nichts, wie sicher und fest dasselbe sich auch dünken möge, zu bestehen vermag. Mit dieser Bestimmung ist dann allerdings die Tiefe des göttlichen Wesens, der Begriff Gottes noch nicht erschöpft; wohl aber bildet dieselbe ein wesentliches Moment in allem religiösen Bewußtsein.
Weiter macht sich nun auch die Dialektik in allen besonderen Gebieten und Gestaltungen der natürlichen und der geistigen Welt geltend. So z. B. in der Bewegung der Himmelskörper. Ein Planet steht jetzt an diesem Ort, ist aber an sich, dies auch an einem anderen Ort zu sein, und bringt dies sein Anderssein zur Existenz dadurch, daß er sich bewegt. Ebenso erweisen sich die physikalischen Elemente als dialektisch, und der meteorologische Prozeß ist die Erscheinung ihrer Dialektik. Dasselbe Prinzip ist es, welches die Grundlage aller übrigen Naturprozesse bildet und wodurch zugleich die Natur über sich selbst hinausgetrieben wird.
Was das Vorkommen der Dialektik in der geistigen Welt und näher auf dem Gebiet des Rechtlichen und Sittlichen anbetrifft, so braucht hier nur daran erinnert zu werden, wie, allgemeiner Erfahrung zufolge, das Äußerste eines Zustandes oder eines Tuns in sein Entgegengesetztes umzuschlagen pflegt, welche Dialektik dann auch vielfältig in Sprichwörtern ihre Anerkennung findet. So heißt es z. B.: summum ius summa iniuria, womit ausgesprochen ist, daß das abstrakte Recht, auf seine Spitze getrieben, in Unrecht umschlägt. Ebenso ist es bekannt, wie im Politischen die Extreme der Anarchie und des Despotismus einander gegenseitig herbeizuführen pflegen. Das Bewußtsein der Dialektik im Gebiet des Sittlichen in seiner individuellen Gestalt finden wir in jenen allbekannten Sprichwörtern: Hochmut kommt vor dem Fall, Allzuscharf macht schartig usw. Auch die Empfindung, die leibliche sowohl als die geistige, hat ihre Dialektik. Es ist bekannt, wie die Extreme des Schmerzes und der Freude ineinander übergehen; das von Freude erfüllte Herz erleichtert sich in Tränen, und die innigste Wehmut pflegt unter Umständen sich durch Lächeln anzukündigen.
Der Skeptizismus darf nicht bloß als eine Zweifelslehre betrachtet werden, vielmehr ist derselbe seiner Sache, d. h. der Nichtigkeit alles Endlichen, schlechthin gewiß. Wer nur zweifelt, der steht noch in der Hoffnung, daß sein Zweifel gelöst werden könne und daß das eine oder das andere Bestimmte, wozwischen er hin und her schwankt, sich als ein Festes und Wahrhaftes ergeben werde. Dahingegen ist der eigentliche Skeptizismus die vollkommene Verzweiflung an allem Festen des Verstandes, und die sich daraus ergebende Gesinnung ist die der Unerschütterlichkeit und des Insichberuhens. Dies ist der hohe, antike Skeptizismus, wie wir ihn namentlich beim Sextus Empiricus dargestellt findet und wie derselbe als Komplement zu den dogmatischen Systemen der Stoiker und Epikureer in der späteren Römerzeit seine Ausbildung erhalten hat. Mit diesem hohen antiken Skeptizismus ist nicht jener bereits früher (§ 39) erwähnte moderne, teils der kritischen Philosophie voran-, teils aus dieser hervorgegangene Skeptizismus zu verwechseln, welcher bloß darin besteht, die Wahrheit und Gewißheit des Übersinnlichen zu leugnen und dagegen das Sinnliche und in der unmittelbaren Empfindung Vorhandene als dasjenige zu bezeichnen, woran wir uns zu halten haben.
Wenn übrigens der Skeptizismus noch heutzutage häufig als ein unwiderstehlicher Feind alles positiven Wissens überhaupt und somit auch der Philosophie, insofern es bei dieser um positive Erkenntnis zu tun ist, betrachtet wird, so ist dagegen zu bemerken, daß es in der Tat bloß das endliche, abstrakt verständige Denken ist, welches den Skeptizismus zu fürchten hat und demselben nicht zu widerstehen vermag, wohingegen die Philosophie das Skeptische als ein Moment in sich enthält, nämlich als das Dialektische. Die Philosophie bleibt dann aber bei dem bloß negativen Resultat der Dialektik nicht stehen, wie dies mit dem Skeptizismus der Fall ist. Dieser verkennt sein Resultat, indem er dasselbe als bloße, d. h. als abstrakte Negation festhält. Indem die Dialektik zu ihrem Resultat das Negative hat, so ist dieses, eben als Resultat, zugleich das Positive, denn es enthält dasjenige, woraus es resultiert, als aufgehoben in sich und ist nicht ohne dasselbe.
Die aber ist die Grundbestimmung der dritten Form des Logischen, nämlich des Spekulativen oder Positiv-Vernünftigen.