Einleitung, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam Verlag, 1924.
Diese Frage nach den Mitteln, wodurch sich die Freiheit zu einer Welt hervorbringt, führt uns in die Erscheinung der Geschichte selbst. Wenn die Freiheit als solche zunächst der innere Begriff ist, so sind die Mittel dagegen ein Äußerliches, das Erscheinende, das in der Geschichte unmittelbar vor die Augen tritt und sich darstellt.
Die nächste Ansicht der Geschichte überzeugt uns, daß die Handlungen der Menschen von ihren Bedürfnissen, ihren Leidenschaften, ihren Interessen, ihren Charakteren und Talenten ausgehen, und zwar so, daß es in diesem Schauspiel der Tätigkeit nur die Bedürfnisse, Leidenschaften, Interessen sind, welche als die Triebfedern erscheinen und als das Hauptwirksame vorkommen. Wohl liegen darin auch allgemeine Zwecke, ein Guteswollen, edle Vaterlandsliebe; aber diese Tugenden und dieses Allgemeine stehen in einem unbedeutenden Verhältnisse zur Welt und zu dem, was sie erschafft. Wir können wohl die Vernunftbestimmung in diesen Subjekten selbst und in den Kreisen ihrer Wirksamkeit realisiert sehen, aber sie sind in einem geringen Verhältnis zu der Masse des Menschengeschlechts; ebenso ist der Umfang des Daseins, den ihre Tugenden haben, relativ von geringer Ausdehnung.
Die Leidenschaften dagegen, die Zwecke des partikularen Interesses, die Befriedigung der Selbstsucht, sind das Gewaltigste; sie haben ihre Macht darin, daß sie keine der Schranken achten, welche das Recht und die Moralität ihnen setzen wollen, und daß diese Naturgewalten dem Menschen unmittelbar näher liegen als die künstliche und langwierige Zucht zur Ordnung und Mäßigung, zum Rechte und zur Moralität. Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, des Unverstandes erblicken, der sich nicht nur zu ihnen, sondern selbst auch und sogar vornehmlich zu dem, was gute Absichten, rechtliche Zwecke sind, gesellt, wenn wir daraus das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten Reiche, die der Menschengeist hervorgebracht hat, sehen, so können wir nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt erfüllt werden, und indem dieses Untergehen nicht nur ein Werk der Natur, sondern des Willens der Menschen ist, mit einer moralischen Betrübnis, mit einer Empörung des guten Geistes, wenn ein solcher in uns ist, über solches Schauspiel enden.
Man kann jene Erfolge ohne rednerische Ubertreibung, bloß mit richtiger Zusammenstellung des Unglücks, das das Herrlichste an Völkern und Staatengestaltungen wie an Privattugenden erlitten hat, zu dem furchtbarsten Gemälde erheben und ebenso damit die Empfindung zur tiefsten, ratlosesten Trauer steigern, welcher kein versöhnendes Resultat das Gegengewicht hält, und gegen die wir uns etwa nur dadurch befestigen, oder dadurch aus ihr heraustreten, indem wir denken: es ist nun einmal so gewesen; es ist ein Schicksal; es ist nichts daran zu ändern; und dann, daß wir aus der Langenweile, welche uns jene Reflexion der Trauer machen könnte, zurück in unser Lebensgefühl, in die Gegenwart unser Zwecke und Interessen, kurz in die Selbstsucht zurücktreten, welche am ruhigen Ufer steht und von da aus sicher des fernen Anblicks der verworrenen Trümmermasse genießt. Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.
Von hier aus geht gewöhnlich die Frage nach dem, was wir zum allgemeinen Anfange unsrer Betrachtung gemacht; von demselben aus haben wir die Begebenheiten, die uns jenes Gemälde für die trübe Empfindung und für die darüber sinnende Reflexion darbieten, sogleich als das Feld bestimmt, in welchem wir nur die Mittel sehen wollen für das, was wir behaupten, daß es die substantielle Bestimmung, der absolute Endzweck, oder was dasselbe ist, daß es das wahrhafte Resultat der Weltgeschichte sei. Wir haben es von Anfang an überhaupt verschmäht, den Weg der Reflexionen einzuschlagen, von jenem Bilde des Besonderen zum allgemeinen aufzusteigen; diese Empfindungen zu erheben und die Rätsel der Vorsehung, welche in jenen Betrachtungen aufgegeben worden sind, zu lösen. Es ist vielmehr das Wesen derselben, sich in den leeren, unfruchtbaren Erhabenheiten jenes negativen Resultats trübselig zu gefallen. Wir kehren also zum Standpunkte, den wir genommen, zurück, und die Momente, die wir darüber anführen wollen, werden auch die wesentlichen Bestimmungen für die Beantwortung der Fragen, die aus jenem Gemälde hervorgehen können, enthalten.
Das erste, was wir bemerken, ist das, was wir schon oft gesagt haben, was aber, sobald es auf die Sache ankommt, nicht oft genug wiederholt werden kann, daß das, was wir Prinzip, Endzweck, Bestimmung, oder die Natur und den Begriff des Geistes genannt haben, nur ein Allgemeines, Abstraktes ist. Prinzip, so auch Grundsatz, Gesetz ist ein Inneres, das als solches, so wahr es auch in ihm ist, nicht vollständig wirklich ist. Zwecke, Grundsätze usf. sind in unsern Gedanken, erst in unster inneren Absicht, aber noch nicht in der Wirklichkeit. Was an sich ist, ist eine Möglichkeit, ein Vermögen, aber noch nicht aus seinem Inneren zur Existenz gekommen.
Es muß ein zweites Moment für die Wirklichkeit hinzukommen, und dies ist die Betätigung, Verwirklichung, und deren Prinzip ist der Wille, die Tätigkeit des Menschen überhaupt. Es ist nur durch diese Tätigkeit, daß jener Begriff sowie die an sich seienden Bestimmungen realisiert, verwirklicht werden, denn sie gelten nicht unmittelbar durch sich selbst. Die Tätigkeit, welche sie ins Werk und Dasein setzt, ist des Menschen Bedürfnis, Trieb, Neigung und Leidenschaft.
Daran, daß ich etwas zur Tat und zum Dasein bringe, ist mir viel gelegen, ich muß dabei sein, ich will durch die Vollführung befriedigt werden. Ein Zweck, für welchen ich tätig sein soll, muß auf irgendeine Weise auch mein Zweck sein; ich muß meinen Zweck zugleich dabei befriedigen, wenn der Zweck, für welchen ich tätig bin, auch noch viele andre Seiten hat, nach denen er mich nichts angeht. Dies ist das unendliche Recht des Subjekts, daß es sich selbst in seiner Tätigkeit und Arbeit befriedigt findet. Wenn die Menschen sich für etwas interessieren sollen, so müssen sie sich selbst darin haben und ihr eignes Selbstgefühl darin befriedigt finden.
Man muß einen Mißverstand hierbei vermeiden: man tadelt es und sagt in einem übeln Sinne mit Recht von einem Individuum, es sei überhaupt interessiert, das heißt, es suche nur seinen Privatvorteil. Wenn wir dieses tadeln, so meinen wir, es suche diesen Privatvorteil ohne Gesinnung für den allgemeinen Zweck, bei dessen Gelegenheit es sich um jenen abmüht, oder gar, indem es das Allgemeine aufopfert; aber wer tätig für eine Sache ist, der ist nicht nur interessiert überhaupt, sondern interessiert dabei. Die Sprache drückt diesen Unterschied richtig aus.
Es geschieht daher nichts, wird nichts vollbracht, ohne daß die Individuen, die dabei tätig sind, auch sich befriedigen; sie sind partikulare Menschen, das heißt, sie haben besondere, ihnen eigentümliche Bedürfnisse, Triebe, Interessen überhaupt: unter diesen Bedürfnissen ist nicht nur das des eignen Bedürfnisses und Willens, sondern auch der eignen Einsicht, Überzeugung, oder wenigstens des Dafürhaltens der Meinung, wenn anders schon das Bedürfnis des Räsonnements, des Verstandes, der Vernunft erwacht ist. Dann verlangen die Menschen auch, wenn sie für eine Sache tätig sein sollen, daß die Sache ihnen überhaupt zusage, daß sie mit ihrer Meinung, es sei von der Güte derselben, ihrem Rechte, Vorteil, ihrer Nützlichkeit, dabei sein können. Dies ist besonders ein wesentliches Moment unster Zeit, wo die Menschen wenig mehr durch Zutrauen und Autorität zu etwas herbeigezogen werden, sondern mit ihrem eignen Verstande, selbständiger Überzeugung und Dafürhalten den Anteil ihrer Tätigkeit einer Sache widmen wollen.
So sagen wir also, daß überhaupt nichts ohne das Interesse derer, welche durch ihre Tätigkeit mitwirkten, zustande gekommen ist, und indem wir ein Interesse eine Leidenschaft nennen, insofern die ganze Individualität mit Hintenansetzung aller andern Interessen und Zwecke, die man auch hat und haben kann, mit allen ihr inwohnenden Adern von Wollen sich in einen Gegenstand legt, in diesen Zweck alle ihre Bedürfnisse und Kräfte konzentriert, so müssen wir überhaupt sagen, daß nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist.
Es sind zwei Momente, die in unsern Gegenstand eintreten; das eine ist die Idee, das andre sind die menschlichen Leidenschaften; das eine ist der Zettel, das andre der Einschlag des großen Teppichs der vor uns ausgebreiteten Weltgeschichte. Die konkrete Mitte und Vereinigung beider ist die sittliche Freiheit im Staate. Von der Idee der Freiheit als der Natur des Geistes und dem absoluten Endzweck der Geschichte ist die Rede gewesen. Leidenschaft wird als etwas angesehen, das nicht recht ist, das mehr oder weniger schlecht ist: der Mensch soll keine Leidenschaften haben. Leidenschaft ist auch nicht ganz das passende Wort für das, was ich hier ausdrücken will.
Ich verstehe hier nämlich überhaupt die Tätigkeit des Menschen aus partikularen Interessen, aus speziellen Zwecken, oder wenn man will, selbstsüchtigen Absichten, und zwar so, daß sie in diese Zwecke die ganze Energie ihres Wollens und Charakters legen, ihnen andres, das auch Zweck sein kann, oder vielmehr alles andre aufopfern. Dieser partikulare Inhalt ist so eins mit dem Willen des Menschen, daß er die ganze Bestimmtheit desselben ausmacht und untrennbar von ihm ist; er ist dadurch das, was er ist.
Denn das Individuum ist ein solches, das da ist, nicht Mensch überhaupt, denn der existiert nicht, sondern ein bestimmter. Charakter drückt gleichfalls diese Bestimmtheit des Willens und der Intelligenz aus. Aber Charakter begreift überhaupt alle Partikularitäten in sich, die Weise des Benehmens in Privatverhältnissen usf., und ist nicht diese Bestimmtheit als in Wirksamkeit und Tätigkeit gesetzt. Ich werde also Leidenschaft sagen und somit die partikulare Bestimmtheit des Charakters verstehen, insofern diese Bestimmtheiten des Wollens nicht einen privaten Inhalt nur haben, sondern das Treibende und Wirkende allgemeiner Taten sind.
Leidenschaft ist zunächst die subjektive, insofern formelle Seite der Energie, des Willens und der Tätigkeit, wobei der Inhalt oder Zweck noch unbestimmt bleibt; ebenso ist es bei dem eignen Überzeugtsein, bei der eignen Einsicht und bei dem eignen Gewissen. Es kommt immer darauf an, welchen Inhalt meine Uberzeugung hat, welchen Zweck meine Leidenschaft, ob der eine oder der andre wahrhafter Natur ist. Aber umgekehrt, wenn er dies ist, so gehört dazu, daß er in die Existenz trete, wirklich sei.
Aus dieser Erläuterung über das zweite wesentliche Moment geschichtlicher Wirklichkeit eines Zwecks überhaupt geht hervor, indem wir im Vorbeigehen Rücksicht auf den Staat nehmen, daß nach dieser Seite ein Staat wohlbestellt und kraftvoll in sich selbst ist, wenn mit seinem allgemeinen Zwecke das Privatinteresse der Bürger bereinigt, eins in dem andern seine Befriedigung und Verwirklichung findet, — ein für sich höchst wichtiger Satz. Aber im Staate bedarf es vieler Veranstaltungen, Erfindungen, von zweckgemäßen Einrichtungen, und zwar von langen Kämpfen des Verstandes begleitet, bis er zum Bewußtsein bringt, was das Zweckgemäße sei, sowie Kämpfe mit dem partikularen Interesse und den Leidenschaften, eine schwere und langwierige Zucht derselben, bis jene Vereinigung zustande gebracht wird. Der Zeitpunkt solcher Vereinigung macht die Periode seiner Blüte, seiner Tugend, seiner Kraft und seines Glückes aus.
Aber die Weltgeschichte beginnt nicht mit irgendeinem bewußten Zwecke, wie bei den besonderen Kreisen der Menschen. Der einfache Trieb des Zusammenlebens derselben hat schon den bewußten Zweck der Sicherung ihres Lebens und Eigentums, und indem dieses Zusammenleben zustande gekommen ist, erweitert sich dieser Zweck. Die Weltgeschichte fängt mit ihrem allgemeinen Zwecke, daß der Begriff des Geistes befriedigt werde, nur an sich an, das heißt, als Natur: er ist der innere, der innerste bewußte Trieb, und das ganze Geschäft der Weltgeschichte ist, wie schon überhaupt erinnert, die Arbeit ihn zum Bewußtsein zu bringen.
So in Gestalt des Naturwesens, des Naturwillens auftretend, ist das, was die subjektive Seite genannt worden ist, das Bedürfnis, der Trieb, die Leidenschaft, das partikulare Interesse, wie die Meinung und subjektive Vorstellung sogleich für sich selbst vorhanden. Diese unermeßliche Masse von Wollen, Interessen und Tätigkeiten sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen, ihn zum Bewußtsein zu erheben und zu verwirklichen; und dieser ist nur, sich zu finden, zu sich selbst zu kommen und sich als Wirklichkeit anzuschauen.
Daß aber jene Lebendigkeiten der Individuen und der Völker, indem sie das Ihrige suchen und befriedigen, zugleich die Mittel und Werkzeuge eines Höheren und Weiteren sind, von dem sie nichts wissen, das sie bewußtlos vollbringen, das ist es, was zur Frage gemacht werden könnte, auch gemacht worden, und was ebenso vielfältig geleugnet wie als Träumerei und Philosophie verschrieen und verachtet worden ist. Darüber aber habe ich gleich von Anfang an mich erklärt und unsre Voraussetzung (die sich aber am Ende erst als Resultat ergeben sollte) und unsern Glauben behauptet, daß die Vernunft die Welt regiert und so auch die Weltgeschichte regiert hat. Gegen dieses an und für sich Allgemeine und Substantielle ist alles andre untergeordnet, ihm dienend und Mittel für dasselbe.
Aber ferner ist diese Vernunft immanent in dem geschichtlichen Dasein und vollbringt sich in demselben und durch dasselbe. Die Vereinigung des Allgemeinen, an und für sich Seienden überhaupt und des Einzelnen, des Subjektiven, daß sie allein die Wahrheit sei, dies ist spekulativer Natur und wird in dieser allgemeinen Form in der Logik abgehandelt. Aber im Gange der Weltgeschichte selbst, als noch im Fortschreiten begriffenen Gange, ist der reine letzte Zweck der Geschichte noch nicht der Inhalt des Bedürfnisses und Interesses, und indem dieses bewußtlos darüber ist, ist das Allgemeine dennoch in den besonderen Zwecken und vollbringt sich durch dieselben.
Jene Frage nimmt auch die Form an, von der Vereinigung der Freiheit und Notwendigkeit, indem wir den inneren, an und für sich seienden Gang des Geistes als das Notwendige betrachten, dagegen das, was im bewußten Willen der Menschen als ihr Interesse erscheint, der Freiheit zuschreiben.