Domenico Losurdo
Originale Veröffentlichung: telepolis.de

Gespräch mit Domenico Losurdo über die politische Philosophie Friedrich Nietzsches (2009)

26 Minuten | Deutsch English | Interviews

Domenico Losurdo’s critical intellectual biography of Nietzsche is a masterful and rewarding read, but, due to its length (about 1100 pages) and its dizzying source-set of citations, it can also be daunting and disorienting. This interview with Telepolis’s Richard Jellen is therefore incredibly useful, insofar as it serves as a superb introductory summary.


Jellen: Wurde und wird Nietzsche überhaupt so verstanden, wie er gewollt hat und wenn nein, warum nicht?

Losurdo: In meinem Buch behaupte ich, dass man Nietzsche gegen seine unkritischen Apologeten verteidigen muss. Ist das nur ein Paradox?

Wir haben es mit einem Philosophen zu tun, der im ganzen Verlauf seiner Entwicklung unermüdlich wiederholt, die Sklaverei sei die unerlässliche Grundlage der Kultur. Wie ist dieses Motiv zu interpretieren? Die Anfänge der literarischen Tätigkeit Nietzsches fallen mitten in den Sezessionskrieg, in eine Zeit, in der die Abolition der Sklaverei in den USA der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland entspricht. In den darauffolgenden Jahren, während Formen der Knechtschaft oder Halb-Knechtschaft in den beiden Ländern weiterbestehen, entwickelt sich die Debatte über diese Themen auf internationaler Ebene schärfer denn je. England, das 1833 die Sklaverei in seinen Kolonien abgeschafft hatte, verhängt in den siebziger und achtziger Jahren eine Seeblockade über die ostafrikanischen Küsten, um den noch andauernden Sklavenhandel, vor allem nach Brasilien zu verhindern, wo die Sklaverei und der entsprechende Sklavenhandel erst 1888 abgeschafft wurde, in dem Jahr, in dem die wache Existenz des Philosophen seinem Ende zu geht.

Die Debatte über die Sklaverei dringt auch stark in das Gebiet der Altertumskunde ein (die Disziplin, von der Nietzsche herkommt): in den USA rühmt die anti-abolitionistische Polemik wiederholt die herrliche Blüte des alten Griechenland, die ohne die Präsenz dieser wohltuenden Institution undenkbar wäre, die den unseligen Ideologen ohne Sinn für die Wirklichkeit so verhasst ist. In den Jahren vor dem Ausbruch des Sezessionskriegs steht im Mittelpunkt des Lehrplans der Schulen und Universitäten in den Südstaaten das Studium der lateinischen und griechischen Klassiker und besonders des Aristoteles, der als der Theoretiker der Entgegensetzung zwischen Freien und Sklaven von Natur aus gefeiert wird.

Bei Nietzsche und in der kulturellen und politischen Debatte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig, verschwindet in der heutigen Unschuldshermeneutik das Thema der Sklaverei oder es verwandelt sich in eine unschuldige Metapher (Bataille, Deleuze, Vattimo, Colli, Montinari usw.). Der Philosoph wird zwar so “gerettet”, aber die Rettung ist teuer erkauft, weil man ihm verminderte Zurechnungsfähigkeit auf politischem Gebiet zuerkennt: er hätte beständig auf die “Metapher” der Sklaverei rekurriert und hätte nichts von der scharfen Polemik und dem harten Kampf gewusst, die zu diesem Thema zur gleichen Zeit um sich griffen.

Jellen: Wie schafft man es überhaupt, aus den Wust der mitunter nach Lust und Laune sich widersprechendenden Schriften Nietzsches eine einheitliche theoretische Grundtendenz zu destillieren? Was ist denn diese Grundtendenz ihrer Meinung nach?

Losurdo: Der junge Nietzsche begeistert sich für die militärischen Triumphe Bismarck-Deutschlands; in reifen Jahren erzürnt er sich darüber. Auf den ersten Blick scheint die eingetretene Wandlung radikal zu sein, aber es wäre oberflächlich, von Inkonsequenz zu reden. Der junge Nietzsche ist begeistert von dem Aufstieg Deutschlands, das Frankreich, das Land der Revolution und der Pariser Kommune besiegt; später bemerkt er, dass auch das Zweite Reich vom Parlamentarismus und von der Demokratie, von der Revolution angesteckt ist. Es steht in der vordersten Reihe, was die Schulpflicht und die Verbreitung der Bildung betrifft; es ist das Land, wo die Gewerkschaftsorganisation und die feministische Bewegung am stärksten und die Präsenz der Arbeiterpartei verwurzelter und engmaschiger ist; es ist das Land, wo Bismarck für die Reichstagswahl das allgemeine (männliche) Stimmrecht eingeführt hat, das England noch unbekannt ist, und wo er einer Revolution von unten mit einer Revolution von oben zuvorkommt, die die ersten, noch vagen Maßnahmen sozialer Sicherheit einführt. Daher schlägt bei unserem Philosophen die leidenschaftliche Verherrlichung Deutschlands in eine immer unerbittlichere Anklage um.

In jungen Jahren drückt Nietzsche Bewunderung für Kant und Beethoven aus; in den Jahren der Reife denunziert er bei ihnen das Vorhandensein der Leitgedanken und der Ideale der französischen Revolution. Nietzsche beginnt als Schüler Wagners und rühmt ihn als den Erneuerer der griechischen Tragödie und der großen griechischen Kultur insgesamt, einer Kultur, in der die Arbeitssklaverei als solche eine wohltuende und offensichtliche Realität war; in den Jahren der Reife verurteilt Nietzsche Wagner vor allem wegen dessen andauernder Bindung an das Christentum, eine Religion, die den Anfang des verhängnisvollen Sklavenaufstands bezeichnet, weil sie die Gleichheit der Seelen vor Gott predigt.

Nur wenn man nicht das Element verdrängt, das sein Denken tief durchdringt, nur wenn man sich die Kritik und die militante Verurteilung der Revolution und der Moderne gut einprägt, kann man die Einheit von Nietzsches Denken und seine innere Konsequenz im Verlauf einer Entwicklung erfassen, die von verschiedenen Etappen, von verschiedenen Anläufen der nie aus den Augen verlorenen Kritik und Verurteilung der Revolution und der Moderne markiert wird.

Und das ist noch nicht alles. Die Urteile, die der Philosoph über die verschiedensten Bereiche abgibt, werden immer von einer deutlich konterrevolutionären Perspektive aus formuliert. Warum verurteilt Die Geburt der Tragödie die Oper? Nicht aus ästhetischen Gründen. Man müsse die Oper bekämpfen und sogar “vernichten”, weil sie, den “Optimismus” verbreitend, den Aufstand der Sklaven anspornt, die sich einbilden, das Glück gewinnen zu können. Und warum bringt der späte Nietzsche seine ganze Verachtung für die “Soziologie” zum Ausdruck? Die neue Disziplin (der Terminus war seit kurzem erfunden worden) ist der erneute Beweis für die Gleichschaltung und Vermassung, die mit der Moderne und mit der Revolution vorrückt: verschwunden sind die Hierarchie und die unüberwindbaren qualitativen Unterschiede und die von der “Soziologie” untersuchte Gesellschaft besteht aus ideell gleichen Individuen, alle gleichermaßen Gegenstand der Komparation und Klassifizierung. [1]

Es gibt keine Disziplin, so weit sie auch vom politischen Konflikt entfernt zu sein scheint, die von Nietzsche nicht von einer konterrevolutionären politischen Perspektive aus gedeutet wird. Man denke an die Physik. Weit entfernt neutral zu sein, ist auch sie vom ruinösen Egalitarismus befallen, der sich auf der sozialpolitischen Ebene ausbreitet: die angebliche “’Gesetzmäßigkeit der Natur’” geht Hand in Hand mit der angeblichen “’Gleichheit vor dem Gesetz’”. In Wahrheit handle es sich um “einen artigen Hintergedanken, indem noch einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche (…) verkleidet liegt”. Nach Art der Physiker zu rufen, “’hoch das Naturgesetz’” sei nur eine andere Weise, nach Art der Anarchisten zu rufen, “’Ni Dieu ni maître’”. [2]

Es steht außer Zweifel. Der Leitfaden des Denkens Nietzsches ist die Verurteilung der Revolution auf politischer, philosophischer und epistemologischer Ebene.

Jellen: Ihren Ausführungen zufolge sind die Schriften von Nietzsche gar nicht so unzeitgemäß, wie ihr Urheber den Eindruck erwecken wollte. Auf welche Quellen und Diskurse greift Nietzsche in seinem Werk zurück?

Losurdo: Auf der einen Seite ist bei Nietzsche die “unzeitgemässe” Geste eins mit der vornehmen aristokratischen Geste: man muss eine Kluft schaffen zwischen Elite und Masse und vermassten Intellektuellen, denen es nicht gelingt, energisch auf die demokratischen und sozialistischen Tendenzen zu reagieren und die sich vom angeblichen Strom der Geschichte mitreißen lassen. Auf der anderen Seite verweist Nietzsche selbst auf seine Zeit. Die Notwendigkeit der Eliminierung der “Missratenen” wird mit der betrübten Erinnerung an das alte Griechenlands bewiesen, als “die Religion keine Moralpredigerin” war und bedenkenlos “die Tötung des embryo, die Beseitigung der Früchte unglücklicher coitus. usw.” erlaubte. [3]

Gleichzeitig verweist Nietzsche jedoch wiederholt, explizit oder implizit, auf Francis Galton, den Erfinder der Eugenik, der neuen “Wissenschaft”, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entschieden “aktuell” und Mode war. Ähnlich hat Nietzsche ständig das Modell des Altertums vor Augen, wenn er die Sklaverei als unausweichliche Grundlage der Kultur rühmt, aber er bringt auch seine große Verachtung für Beecher-Stowe zum Ausdruck, die Autorin des berühmten abolitionistischen Romans Onkel Tom’s Hütte; und wenn er das tut, verhält er sich genauso wie die US-amerikanischen Anti-Abolitionisten.

Die Sklaverei ermöglicht das otium (Muße — R. J.) für die Besten und wiederum wird die Vortrefflichkeit dieser Sozialordnung mit dem Verweis auf das Altertum bewiesen. Aber gleichzeitig kann das otium der Besten die koloniale Expansion gewährleisten, die die Eingeborenen unter Zwangsarbeit stellt. Und erneut nimmt Nietzsche auf die in seiner Zeit üblichen Praktiken Bezug:

Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat, und dass die ‘Barbarei ’der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung einmal in die Nothwendigkeit versetzt wird, am Congo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen. [4]

Das hier angeführte Beispiel ist interessant. Ein Jahr nach dem Ende der wachen Existenz des Philosophen reist Joseph Conrad nach Afrika und in den Kongo und sammelt dort die Informationen und Anregungen, die später in Heart of Darkness und der dort enthaltenen Beschreibung der Schrecken der kolonialen Expansion und Herrschaft aufgehen: man denke an die “Köpfe (der Rebellen), die man auf den Pflöcken unter den Fenstern des Herrn Kurtz austrocknen ließ”, des Sklavenhalters, der die Schlüsselfigur der Novelle ist.

Jellen: Eine Frage, die ich allein deshalb so beknackt formulieren möchte, weil sich Nietzsche vermutlich darüber aufgeregt hätte: Was ist das “Gute” und was ist das “Böse” des jenseits von Gut und böse stehenden Philosophen und lässt sich beides überhaupt trennen?

Losurdo: Die beiden Seiten lassen sich tatsächlich nicht trennen. Gegen die Unschuldshermeneutik muss betont werden, dass das entmystifizierende Potenzial Nietzsches nur dann begriffen werden kann, wenn man den extrem reaktionären Charakter seines Denkens versteht. Die Verherrlichung der Sklaverei zu verdrängen bzw. sie metaphorisch zu deuten heißt, wie wir gesehen haben, dem Philosophen, den man zu verehren behauptet, großes Unrecht antun.

Versuchen wir indessen, den historischen Kontext heranzuziehen. Da zeitigt nämlich gerade die Verherrlichung der Sklaverei am Ende eine unerwartete kritische Wirksamkeit. Sie fällt in die Zeit, in welcher der europäische Kolonialismus seine Expansion als einen entscheidenden Beitrag zum Kampf gegen die Barbarei der Sklaverei verklärt. So wird ein Kreuzzug, manchmal im buchstäblichen und christlichen Sinn des Wortes verstanden, ausgerufen; doch geht sein Vormarsch Hand in Hand mit der Unterwerfung der “einheimischen” Bevölkerung unter eine mehr oder weniger explizite Zwangsarbeit und sogar mit einer Zunahme der sklavischen Arbeit, um ganz von der Zersetzung und der Zerstörung der einheimischen Kultur zu schweigen. Nietzsches Verherrlichung der Sklaverei verknüpft sich paradoxerweise mit der Entmystifizierung der realen kolonialen Praktiken der Verknechtung und des Ethnozids:

’Aufhebung der Sklaverei’, angeblich ein Tribut an die ‘Menschenwürde’, in Wahrheit eine Vernichtung einer grundverschiedenen species, Untergrabung ihrer Werte und ihres Glücks. [5]

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entscheidet Bismarck, ebenfalls die Parole von der Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien und von der Expansion der Kultur und der humanitären Prinzipien zu lancieren. Und mit diesen Worten wendet er sich an seine Mitarbeiter: “Kann man nicht schaurige Details über Menschenquälerei auftreiben?” Auf der Woge der so ausgelösten moralischen Entrüstung würde es dann leichter sein, zum Kreuzzug gegen den Sklavenhalter-Islam aufzurufen und die internationale Rolle Deutschlands zu konsolidieren. Man könnte mit Jenseits von Gut und Böse kommentieren; “Niemand lügt soviel als der Entrüstete”. [6]

Zweifellos kann eine Kritik des “humanitären Krieges” und des “Imperialismus der Menschenrechte” nicht von der Lektion Nietzsches absehen.

Jellen: Wie wichtig ist bei Nietzsche der Unterschied zwischen einer “transversalen” (globale Elitenbildung) und einer “horizontalen” Rassifizierung ?

Losurdo: Im herrlichen, imperialen, von Mein Kampf beschworenen Deutschland, muss es “eine größere Ehre sein, als Straßenfeger Bürger dieses Reiches zu sein als König in einem fremden Staate”. Nach Hitlers Anschauung ist die germanische Nation oder besser Herrenrasse, dazu berufen, die Nationen oder besser Dienerrassen, die in Osteuropa wohnen, zu versklaven. Der aus der französischen Revolution hervorgegangene Begriff Nation (alle Bürger sind gleichwertige Mitglieder der Nation) wird vom Imperialismus benutzt und verzerrt, um die höheren Nationen-Rassen den niedrigeren Nationen-Rassen entgegenzustellen. Das ist die “horizontale” Rassisierung.

Im Kielwasser von Boulainvillers und Gobineau, weist Nietzsche entsetzt allein schon die Idee Nation zurück, die für ihn von einem verhassten Egalitarismus behaftet ist: sie stellt sowohl die Herren als auch die Sklaven, sowohl die “Rasse” der Herrscher als auch die “Rasse” der Diener auf dieselbe Ebene, sie stellt sie als Bürger gleich. Die Gegenposition hierzu ist die “transversale” Rassisierung. Diese zerreist die Nationen und betrachtet Oberschicht und Unterschicht, Herren und Sklaven, als Angehörige verschiedener Rassen, und vereint Oberschicht und Unterschicht über Ländergrenzen hinweg, indem die Unteren den Oberen im globalen Maßtstab zu dienen haben.

Das 20. Jahrhundert hat den Übergang von der “transversalen” zur “horizontalen” Rassisierung erlebt: zunächst das wilhelminische und später Hitlerdeutschland konnte die Volksmassen sicher nicht davon überzeugen, sich massenweise zu opfern, indem sie diese im Voraus als Mischmasch von Tschandala und Sklaven von Natur aus abstempelte, wie das bei Nietzsche geschieht.

Jellen: Nietzsche identifiziert geradezu das Christentum mit den Sozialisten und so dämlich wie sich die Linke heutzutage [7], ist an dieser Position vermutlich doch einiges dran. Haben also die Ausführungen Nietzsches diesbezüglich nach einen rationellen Kern? Was haben ihrer Meinung nach Sozialisten und Christen gemeinsam und was trennt sie?

Losurdo: Nietzsche stellt unschwer das starke Potenzial sozialen Protests fest, das sich im Christentum ausdrückt. Aber nicht daran liegt seine Originalität. Sie liegt vielmehr darin, in der evangelischen Predigt die ideologischen Ursprünge des langen revolutionären Zyklus gelesen zu haben, der den Westen verheert: die “christlichen Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt”. [8] Man darf sich vom geistigen und erbaulichen Schein des Diskurses Jesu nicht trügen lassen: “im Neuen Testament, speziell aus den Evangelien” hört man “eine indirekte Form der abgründlichsten Verleumdungs- und Vernichtungswut”. [9] Diejenigen, die zur Erklärung des jakobinischen oder bolschewistischen Terrors die Aufklärung und Rousseau oder Marx und Engels unter Anklage stellen, täten gut daran, über diese Erklärungen nachzudenken!

Damit sollte man allerdings sofort klarstellen, dass Nietzsche der Grundunterschied völlig entgangen ist, der zwischen Christentum einerseits und sozialistischer Bewegung marxistischer Orientierung andererseits besteht. Von den Evangelien (und zuvor schon von den jüdischen Propheten) an, hat sich der soziale Protest der Armen und Ausgebeuteten mit einer “Philosophie der Armut”, d. h. mit der Würdigung eines Lebens unter dem Vorzeichen der Genügsamkeit, der anständigen Armut (Selig sind die Armen!) der Verurteilung des “Luxus” und des “ausschweifenden” Lebens ausgedrückt. Diese Tendenz hat sich über lange Zeit hinweg, ganz abgesehen vom Christentum, z. B. bei Autoren wie Rousseau und Fichte manifestiert.

Ganz anders ist die Orientierung von Marx und Engels. Bei ihnen erfolgt sich die Verurteilung der Armut und des kümmerlichen Daseins, zu dem die Volksmassen verdammt sind, im Namen einer “Philosophie des Reichtums”, einer Auffassung, die die Entwicklung der Produktivkräfte feiert. In ihren Augen ist das kapitalistische System nicht nur, weil es auf einer ungerechten Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums gegründet ist, als historisch überwunden zu betrachten; nein, mit seinen regelmäßig wiederkehrenden Überproduktionskrisen verhindert es schon im Vorfeld die weitere Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und macht die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unmöglich. Die Kritik, die Nietzsche an den sozialen Protestbewegungen übt, sie seien von einer engen und provinziellen Lebensauffassung, von einer strengen und engherzigen Moral gekennzeichnet, treffen in diesem Sinne nicht zu, wenn es sich um die marxistisch orientierte sozialistische Bewegung handelt.

Sicher wurde auch sie historisch von der “Philosophie der Armut” der rückständigsten Massen beeinflusst, wenn sie unermessliche Massen in wenig entwickelten Ländern in Bewegung gesetzt hat; aber das ist nicht der wichtigste Aspekt.

Jellen: Welche Rolle spielt generell der Antisemitismus in Nietzsches Schriften?

Losurdo: In meinem Buch unterscheide ich vom Antisemitismus im eigentlichen Sinn, der auf die Rasse Bezug nimmt, die “Judenfeindschaft”, die auf historisch-kulturelle Argumentationen rekurriert.

Beim frühen Nietzsche, beim Nietzsche vor der “aufgeklärten” Periode, spielt die Judenfeindschaft eine zentrale Rolle: die Verurteilung des “Sokratismus” ist in Wahrheit die Verurteilung des Judentums. Um sich darüber klar zu werden, genügt es, die Originalfassung des in Basel am 1. Februar 1870 gehaltenen Vortrags (Sokrates und die Tragödie) zu lesen, der so schließt: “Dieser Sokratismus ist die jüdische Presse: ich sage kein Wort mehr”. [10] Auch die erste Unzeitgemässe Betrachtung kann nicht ohne die Judenfeindschaft verstanden werden: Nietzsche spottet über das fürchterliche Deutsch, das er David Friedrich Strauss vorwirft, der schon wegen seines Namens verdächtigt wird, Jude zu sein und deshalb für unfähig gehalten wird, korrekt eine Sprache zu benutzen, die nicht wirklich die seine ist.

Was den späten Nietzsche betrifft, muss man dagegen drei Figuren des Judentums unterscheiden. Mit Wohlwollen blickt der Philosoph auf die Figur des jüdischen Kapitalisten bzw. Finanziers, ja er wünscht sich sogar dessen eheliche und eugenische Verschmelzung mit dem preußischen Offizierskorps, um der herrschenden Klasse neues Blut zuzuführen und sie damit zu stärken und in die Lage zu versetzen, geschlossen und energisch der demokratischen und sozialistischen Subversion entgegenzutreten. Auf der anderen Seite spricht sich Nietzsche verächtlich über die Figur des jüdischen Einwanderers (so wie generell des Einwanderers) aus: “die polnischen Juden (…) riechen nicht gut” [11] und es gebe derer schon zu viele in Deutschland. Und vor allem gibt Nietzsche seiner Verachtung und seinem Hass für die Figur des jüdischen Intellektuellen freien Lauf, der als der subversive Intellektuelle schlechthin betrachtet wird, und der, auf die eine oder andere Weise in allen Revolutionen präsent sei. Für den Philosophen kann der lange revolutionäre Zyklus, der den Westen verheert, als der zweitausendjährige Zyklus beschrieben werden, der von den jüdischen Propheten zur sozialistischen Bewegung reicht, und in dem die jüdische Präsenz weiterhin besorgniserregend ist.

Jellen: Sehen Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Kritik Nietzsches und Hegels an Kants Morallehre?

Losurdo: Beim Nietzsche der “aufgeklärten” Periode können wir lesen: “Die Menschen der Liebe und Aufopferung haben ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten”. [12] Um ihre Absolutheit feiern zu können, ist die moralische Norm, die den Altruismus fordert, dazu gezwungen, das Böse, das sie unermüdlich brandmarkt, vorauszusetzen. Es ist interessant festzustellen, dass eine ähnliche Kritik schon von Hegel an dem christlichen Gebot der Nächstenliebe und der Armenhilfe geübt wird; und derjenige, der dieses Gebot befolgt, kann seine moralische Vortrefflichkeit nur dann rühmen, wenn es Arme gibt, denen man helfen muss. Anders gesagt ist die narzisstische Selbstbetrachtung des moralischen Subjekts die Kehrseite der Medaille der moralischen Weltanschauung.

Nach einer gemeinsam zurückgelegten Strecke, schlagen dann die beiden Philosophen zwei einander radikal entgegengesetzte Wege ein. Bei Hegel läuft die Kritik an der moralischen Weltanschauung auf die Behauptung der Notwendigkeit einer konkreten sittlichen Ordnung hinaus, die in der Lage wäre, die moralischen Bedürfnisse des Subjekts einzuverleiben, Bedürfnisse die, gerade wenn sie die Dimension der Objektivität annehmen, ihre Authentizität beweisen und aufhören, ein Instrument narzisstischer Genugtuung zu sein. Wer also die Pflicht zur Armenhilfe ernst nimmt, muss sich für die Realisierung einer sittlichen Ordnung einsetzen, in der es keinen Platz mehr für die Armut gibt und sogar das Gebot überwunden ist, das die Wohltätigkeit fordert. Für Nietzsche indessen handelt es sich darum, das von der Kultur geforderte Opfer einer beträchtlichen Masse von Menschen, sogar des größten Teils der Menschheit, zu verstehen und zu rechtfertigen: “Wenn man sich den reichsten edelsten und furchtbarsten Menschen denkt, ohne Böses — so denkt man einen Widerspruch (…) Ein Genie müsste furchtbar leiden, denn alle seine Fruchtbarkeit will egoistisch sich von den Anderen nähren, sie beherrschen, aussaugen usw.” [13]

Jellen: Nietzsche, der mit großer Inbrunst gegen den gesellschaftlichen Verfall, den er als Krankheit interpretierte, ins Feld zog, war selber Zeit seines Lebens krank, er hat wie bekannt nach der Niederschrift des “Ecce homo” seinen Verstand verloren. Er hat selber geschrieben, “alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden.” Kann man besonders den späten Nietzsche überhaupt verstehen ohne Einblick in seine Krankenakten bzw. die Protokolle seiner nicht stattgefundenen Psychiatriesitzungen zu haben?

Losurdo: Edmund Husserl hat uns eine Grundwahrheit gelehrt: wir können die psychologische oder soziologische Entstehung eines Satzes untersuchen, wir können sagen, dass er (auf psychologischer Ebene) Ausdruck einer bestimmten Gemütsverfassung und sogar einer bestimmten psychopathologischen Tendenz ist, bzw. dass er (auf soziologischer Ebene) Ausdruck materieller Interessen und sogar egoistischer und perverser materieller Interessen ist. Unausweichlich bleibe für den Philosophen jedoch die Aufgabe, den Wahrheitsgehalt dieses Satzes zu analysieren. Nicht anders dürfen wir hinsichtlich des späten Nietzsche vorgehen und insbesondere sind wir gezwungen, so vorzugehen, weil Ecce homo eines seiner faszinierendsten Werke ist und weil es jedenfalls nicht im Widerspruch zu seiner vorhergehenden Produktion steht.

Es stimmt, dass Nietzsche, vor allem in der letzten Phase seiner Entwicklung, auf der psychopathologischen Deutung seiner Gegner besteht; das ist aber ein schweres Anzeichen für Schwäche. Mit dem Rekurs auf die Kategorie Entartung, zur Erklärung des Konflikts und der Geschichte kommt die Möglichkeit zur Selbstreflexion abhanden, das heißt die Fähigkeit eines Autors, auf seinen eigenen Diskurs und auf sich selbst die Kriterien der Deutung und der Kritik anzuwenden, die er für die Diskurse der anderen formuliert. Unermüdlich betont er, dass nur seine Antagonisten und nur sie krank seien:

Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, dass man die schädlichsten Menschen für große Menschen nahm (…). Ich will dazu der Gegensatz sein: mein Vorrecht ist, die höchste Feinheit für alle Zeichen gesunder Instinkte zu haben. Es fehlt jeder krankhafte Zug an mir. [14]

Aber dann ist es gerade Nietzsche, der sich in einem Brief über das Fehlen von Rezensionen und kritischen Diskussionen seiner Bücher beklagt; stattdessen “hilft man sich jetzt mit den Worten: ‘exzentrisch’, ‘pathologisch’, ‘psychiatrisch’”. Dieser Austausch von Anklagen und Beleidigungen gibt zu denken. Er ist die Bestätigung dafür, dass es keinen Raum mehr für die Selbstreflexion gibt und wenn die Selbstreflexion ein unverzichtbares Requisit jeder wirklich kritischen, nicht dogmatischen Theorie ist, muss gesagt werden, dass der späte Nietzsche entschieden dogmatisch ist.

Jellen: Nietzsche hat sich als Biologe des Sozialen verstanden. Die Sklaverei hat er als Grundvoraussetzung jeglicher kulturellen Entwicklung propagiert. Die Eugenik, also biologische Zuchtwahl hat er als Lösung für die sozialen Probleme seiner Gegenwart empfohlen: Deutsche Junker und reiche Jüdinnen (“christliche Hengste, jüdische Stuten”) sollten durch Heirat und Verschmelzung ihrer Eigenschaften die Spannungen innerhalb der deutschen Oberschicht lindern. Den Armen hat er eine äußerst restriktive Familienpolitik anempfohlen, die bis zur “Kastration” und dem “Abtragen der kleinen Schamlippen” geht. Diese Topoi kommen bei Nietzsche nicht nur gelegentlich vor. Können Sie sich erklären, wie die “Hermeneutik der Unschuld” (Losurdo) diese Aspekte zu Nebensächlichkeiten abtun konnte?

Losurdo: Die “Unschuldshermeneutik” lässt sich vielleicht mit dem Horror erklären, den die Postmodernen vor der Dialektik haben.

Bei Nietzsche können wir sowohl die Legitimation der Sklaverei als auch die Würdigung der Emanzipation des Individuums, sowohl die Forderung nach einem die Totalität berücksichtigenden kritischen Wissen als auch die Verurteilung der Bildung für diejenigen finden, die dazu bestimmt sind, Sklaven oder Arbeitsmaschinen zu sein. Ist das ein Widerspruch? Bei einem bedeutenden amerikanischen Autor, Calhoun, der auch Vizepräsident der USA gewesen ist, geht etwa zur gleichen Zeit die Theoretisierung der absoluten Unverletzbarkeit der Sphäre der individuellen Freiheit, Hand in Hand mit der intransigenten Verteidigung des “positiven Guts”, das die Sklaverei ist. Calhoun beruft sich auf Locke und auch beim englischen Liberalen ist die entschiedene Verurteilung der absoluten Monarchie nur eine Seite der Medaille, während die Kehrseite die bedenkenlose Zustimmung zur absoluten Macht ist, die die Sklavenhalter in den Kolonien über ihre Sklaven ausüben. Die Grundtendenz der Geschichte des Westen findet bei Nietzsche ihren bewussten Ausdruck und kommt zu ihrer Vollendung: eine Verherrlichung des emanzipierten Individuums, das sich auf die Verknechtung derer stützt, die aus dem heiligen Raum der “Kultur” ausgeschlossen sind.

Deutet man die liberale Tradition und deutet man Nietzsches Denken nur unter dem Vorzeichen der Emanzipation, so heißt das, die erschreckenden Ausschlussklauseln verdrängen, die sowohl die eine als auch das andere kennzeichnen. Ähnlich wie den heutigen Liberalen gelingt es den postmodernen Unschuldhermeneutikern nicht, den widersprüchlichen Zusammenhang von Einschluss/Ausschluss, Emanzipation/De-Emanzipation zu verstehen, der die sozialpolitische und philosophische Geschichte des Westens charakterisiert.


[1] Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, 37 u. KSA, 13, 220. 

[2] Jenseits von Gut und Böse, 22. 

[3] Saemtliche Werke: Kritische Studienausgabe, hgg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, IX, 476. 

[4] Saemtliche Werke: Kritische Studienausgabe, hgg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, XII, 471. 

[5] Kritische Gesamtausgabe, hgg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 12, 437. 

[6] Jenseits von Gut und Böse, 26. 

[7] Link auf [web] 

[8] Der Antichrist, 43. 

[9] Kritische Gesamtausgabe, hgg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 12, 381. 

[10] Saemtliche Werke: Kritische Studienausgabe, hgg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, XIV, 101. 

[11] Der Antichrist, 46. 

[12] Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 133. 

[13] Saemtliche Werke: Kritische Studienausgabe, hgg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, IX, 457. 

[14] Ecce homo. Wie man wird, was man ist, Warum ich so klug bin, 10.